Unverantwortliche verbale Aufrüstung und Verkürzung der Debatte
Seit Jahresbeginn haben etwa 7.000 Menschen aus Serbien und Mazedonien in Deutschland Asyl beantragt. Einwohner dieser Länder dürfen seit drei Jahren ohne Visum in die EU einreisen. Mit einer unverantwortlichen Panikmache richtet Bundesinnenminister Friedrich innen- und außenpolitischen Schaden an. In der Debatte werden zudem die Asylbewerberzahlen verfälscht dargestellt. Die angeblichen Rekordzahlen für September 2012 liegen zwar über dem Vorjahreswert, aber kaum höher als im September 2010.
Wir wollen hier über Fakten reden:
Steigen die Zahlen der Asylbewerber?
Die Zahlen sind in den letzten zwei Jahren kontinuierlich leicht angestiegen Sie haben aber noch nicht annähernd die Größenordnung erreicht, die bis zur Jahrtausendwende üblich war. Nur zur Erinnerung: Im Jahre 1992 allein waren es 438.000; demgegenüber haben in der Zeit von Januar bis September 2012 insgesamt 40.201 Personen in Deutschland Asyl beantragt (2010 insgesamt: 41.300; 2011: 45.700).
Zum Teil ist dieser Anstieg saisonal bedingt. Auch in den vergangenen Jahren war gegen Ende des Sommers eine Zunahme zu verzeichnen. Auch wenn der Anstieg in diesem Jahr deutlicher ausfällt, ganz überraschend kommt dies nicht.
Im Übrigen ist diese Entwicklung nicht auf Deutschland beschränkt. Auch in anderen europäischen Staaten, zum Beispiel in Schweden und der Schweiz, ist Ähnliches zu beobachten.
Woher kommen die Flüchtlinge?
Angesichts der kriegerischen Auseinandersetzungen, der Bürgerkriege, der Verfolgung ethnischer Minderheiten und – nicht zuletzt – der bitteren Armut vieler Menschen kann es nicht verwundern, dass Menschen verstärkt Zuflucht suchen.
Zu den größten Gruppen der Antragsteller zählen weiterhin Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Irak und Syrien. Auf das gesamte Jahr 2012 bezogen ergibt sich folgendes Bild:
• Afghanistan: 5.368
• Serbien: 4.160
• Irak: 3.931
• Syrien: 3.721
• Iran: 2.987
Warum kommen Roma zu uns und woher kommen sie?
Insbesondere ab September 2012 sind die Zahlen der Antragsteller aus Serbien und Mazedonien deutlich angestiegen. Dabei handelt es sich zumeist um Roma. Aber: Seit Aufhebung der Visumspflicht sind diese Zahlen auch in den Jahren 2010 und 2011 im Laufe der Jahres angestiegen und zum Jahresende wieder zurückgegangen.
Die beiden Kirchen haben in einer gemeinsamen Erklärung vom 23. Oktober 2012 zu Recht zur Besonnenheit in der Debatte um Asylsuchende aus Serbien und Mazedonien aufgerufen und eine gründliche und unvoreingenommene Prüfung von Asylanträgen auch aus diesen Staaten angemahnt.
Dabei ist auch zu beachten, dass die öffentliche Wahrnehmung und Debatte mitbestimmt wird durch Roma aus Rumänien und Bulgarien – also EU-Mitgliedsstaaten. EU-Staatsangehörige genießen grundsätzlich Freizügigkeit innerhalb der EU; mit Asylverfahren hat das alles nichts zu tun.
Dennoch stehen Roma in Rumänien und Bulgarien vor ähnlichen Problemen wie in Serbien und Mazedonien: Sie wollen der Armut, Ausgrenzung und oft auch Gewalt in ihren Heimatländern entrinnen. In vielen Ländern sind Roma in großem Ausmaß vom Zugang zu Bildung und Arbeit faktisch ausgeschlossen. Es gibt in Europa verbreitete Diskriminierung gegen Roma, die bis zu pogromartigen Ausschreitungen gegen diese Minderheit reicht. Zugespitzt gesagt: Europa hat ein Minderheiten-, aber kein Flüchtlingsproblem. Am 24. Oktober 2012 wurde in Berlin unter Anwesenheit des Bundespräsidenten und der Bundeskanzlerin das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas eingeweiht. Deutschland hat aus seiner Geschichte heraus eine besondere Verantwortung für den Schutz der Sinti und Roma. Die Kampagne des Bundesinnenministers gegen Roma-Flüchtlinge spricht dieser Verantwortung Hohn.
Gibt es einen Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)?
Es ist unsinnig, den Anstieg der Flüchtlingszahlen in Verbindung zu bringen mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012, die Sozialleistungen für Asylbewerber auf Hartz-IV-Niveau anzugleichen. Denn ein Anstieg der Asylanträge ist auch in anderen EU-Staaten zu verzeichnen. Und welcher Flüchtling macht sich auf den beschwerlichen und gefährlichen Weg aus Afghanistan, nur um hier ein wenig mehr Taschengeld zu bekommen?
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2012 zum Asylbewerberleistungsgesetz hat unmissverständlich klargestellt, was wir Grünen seit Jahren vertreten: Das Existenzminimum ist für alle Menschen gleich – egal ob Deutscher, Migrant oder Flüchtling. Das Bundesverfassungsgericht hat zudem in aller Deutlichkeit erklärt: Die im Grundgesetz garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.
Nicht nur falsch, sondern verfassungswidrig ist daher die von Verfassungsminister Friedrich vorgeschlagene Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes, in dem er für bestimmte Gruppen die Beträge kürzen will!
Probleme bei der Unterbringung
Die Bundesländer stehen aktuell vor Herausforderungen bei der Unterbringung der neuankommenden Asylbewerber stehen. Über fast zwei Jahrzehnte hinweg waren die Asylbewerberzahlen jedoch kontinuierlich gefallen – von 438.000 im Jahr 1992 auf 27.649 im Jahr 2009. Dementsprechend hatten Länder und Kommunen ihre Aufnahmekapazitäten abgebaut, die jetzt wieder reaktiviert werden müssen. Auf Engpässe bei der Unterbringung – gerade in den Erstaufnahmeeinrichtungen – hatten viele Beratungsstellen aber bereits seit Monaten hingewiesen. Nach dem Asylverfahrensgesetz sollen neuankommende Asylantragsteller in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht werden, die meist in der Nähe einer Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge eingerichtet wurden. Erst nach drei Monaten werden die Asylbewerber dann auf die Kommunen verteilt. Die Bundesländer zahlen den Kommunen anteilige Erstattung für Unterbringung und Verpflegung beziehungsweise Lebensunterhalt nach dem AsylbLG. Im ersten Jahr nach der Asylantragstellung unterliegen Asylbewerber einem einjährigen Arbeitsverbot.
Bundesinnenminister Friedrich rät nun allen Bundesländern, die Leistungen des AsylbLG für die Gruppe der Serben und Mazedonier ausschließlich als Sachleistung auszuzahlen. Die Auszahlung in Sachleistungen ist – abgesehen von der allerersten Phase in den Erstaufnahmeeinrichtungen – nicht im Interesse der Länder und Kommunen, da sie einen enormen finanziellen und bürokratischen Mehraufwand bedeuten. Deshalb wählt ein Großteil der Bundesländer und Kommunen eine Auszahlung in Barmitteln. Darüber hinaus haben die Berichte der Wohlfahrtsverbände und Nichtregierungsorganisationen zur Evaluation des Sachleistungsprinzips durch das BMAS ergeben, dass viele Asylsuchende eine Versorgung mit Sachleistungen oder über Gutscheinsysteme als entmündigend und diskriminierend empfinden. Der Wert der Sachpakete und der Gutscheine war außerdem oftmals geringer als die im Gesetz ausgewiesenen Beträge.
Anforderungen an faire Asylverfahren
Gegen zügige Asylverfahren hat niemand etwas einzuwenden – solange sie fair sind. Das Recht auf Anerkennung als Asylberechtigter oder als Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskommission erfordert eine faire Überprüfung der individuellen Situation. Es dürfen nicht pauschal ganze Bevölkerungsgruppen vom Asylrecht ausgeschlossen werden. Auch Roma haben ein Recht auf eine Prüfung ihres Anspruchs auf Asyl, innerhalb derer die rassistische Diskriminierung in ihren Heimatländern in angemessener Weise zu berücksichtigen ist. Es ist sehr fraglich, ob das vom BAMF vorgesehene Schnellverfahren innerhalb einer Woche diesen Anforderungen Rechnung trägt. Fraglich ist auch, ob kurzfristig abgeordnete Angehörige der Bundeswehr und der Bundespolizei zur Durchführung von Asylverfahren ausreichend qualifiziert sind.
Verkürzte Asylverfahren sind ein Irrweg
Zu einem fairen Asylverfahren zählen eine unvoreingenommene persönliche Anhörung (keine Videoanhörungen!), die vollständige Aufklärung des Sachverhalts und eine zutreffende Würdigung des Vorbringens durch qualifizierte Entscheider. Daran darf es keine Abstriche geben. Pauschale Einordnungen bestimmter Herkunftsländer wie zum Beispiel Serbien oder Mazedonien als „sicher“ lehnen wir ab. Wenn pauschale Entscheidungen in Schnellverfahren getroffen werden, führt dies unweigerlich zu einer Zunahme der Rechtsmittel und damit zu einer Verlagerung auf die Verwaltungsgerichte. Die vorrangige Prüfung von Asylanträgen aus Serbien und Mazedonien durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge darf auch nicht dazu führen, dass Antragsteller mit großen Anerkennungschancen, beispielsweise aus Syrien, unverhältnismäßig lange warten müssen.
Visumsfreiheit erhalten!
Auch die Visumsfreiheit für die Länder des Westbalkans ist aus grüner Sicht unverzichtbar. Die erst 2009 eingeführte Reisefreiheit beendete die Isolation einer ganzen Region mitten in Europa. Reisefreiheit fördert die Identifikation mit Europa und transportiert Ideen von Pluralismus und Demokratie in die Transformationsgesellschaften. Zudem wird so Nationalismus entgegen gewirkt, der auch nach dem Ende der Kriege auf dem Westbalkan weiterhin eine große Belastung für die Sicherheit einer Region inmitten Europas darstellt.
Zur Situation der Roma in Serbien und Mazedonien
Die hohe Zahl der Asylbewerber aus Serbien und Mazedonien deutet vor allem auf die Ausgrenzung der dortigen Minderheiten hin. Statt über eine Wiedereinführung der Visumspflicht zu diskutieren, sollte die Situation der Roma vor Ort nachhaltig verbessert werden. Die entsprechenden Maßnahmen der EU sind offensichtlich noch lange nicht ausreichend. Erst Ende August stellte die EU-Kommission in ihrem dritten Bericht zur Visaliberalisierung erneut fest, dass Roma in allen Balkanstaaten einer umfassenden Diskriminierung ausgesetzt sind, die sie an der Ausübung grundlegender Rechte wie beispielsweise dem Zugang zu Bildung und Ausbildung, Gesundheitsversorgung und Arbeitsmarkt hindert.
Negative Auswirkungen dieser Debatte
Die derzeit zu beobachtende verbale Aufrüstung und Verkürzung der Debatte auf den verstärkten Zuzug von Roma ist größtenteils dem Wahlkampf (Niedersachsen, Bayern) geschuldet. Sie hat aber aus grüner Sicht erhebliche negative Auswirkungen auf andere flüchtlingspolitische Bereiche, wie beispielsweise unsere langjährigen Bemühungen um ein Bleiberecht für Geduldete, die Aufnahme von schutzbedürftigen syrischen Flüchtlingen aus den Nachbarländern sowie die vollständige Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Die Grünen werden weiter engagiert für die Rechte von Flüchtlingen eintreten.