Normenkontrollklage – Für ein verfassungskonformes Wahlrecht

Mit dem gerade vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelten – offenbar verfassungswidrigen – Wahlrecht versucht die Bundesregierung, sich in eine zweite Regierungszeit zu retten. Doch wir werden ihr einen juristischen Strich durch die Rechnung machen. Denn ein Wahlrecht, das nicht den Wählerwillen abbildet, sondern einzig schwarz-gelbe Überhangmandate sichern soll, wird in Karlsruhe keinen Bestand haben.

Stellen wir uns vor, bei der Bundestagswahl 2005 hätte in Hamburg, Bremen, im Saarland, in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen niemand der SPD seine Zweitstimme gegeben – und trotzdem hätte die SPD elf Mandate mehr erhalten. Gleichzeitig wäre die CDU-Bundestagsfraktion um neun Sitze stärker gewesen, obwohl sie in Baden-Württemberg und Sachsen ebenfalls keine Zweitstimmen bekommen hätte. Klingt ungerecht? Ist es auch! Das Problem heißt negatives Stimmgewicht. Es entsteht, wenn eine Partei mehr Abgeordnete in den Bundestag entsenden kann, als ihr nach den abgegebenen Zweitstimmen zusteht. Eigentlich sollte in unserem Wahlrecht die Anzahl der Zweitstimmen entscheiden, wie stark eine Partei im Bundestag vertreten ist. Durch Überhangmandate wird dieses Prinzip jedoch ausgehebelt und durch die negative Wirkung von Zweitstimmen sogar ins Gegenteil verkehrt.

Das fand auch das Bundesverfassungsgericht paradox und stellte im Juli 2008 fest, dass das Bundeswahlgesetz punktuell gegen die Verfassung verstößt, weil „ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen kann“. Und auch ein Übermaß an Überhangmandaten (mehr als 5 Prozent der gesamten Mandate) sehen die Verfassungshüter als problematisch an. Bis zum 30. Juni 2011 gaben die Karlsruher Richter dem Deutschen Bundestag Zeit, um den Effekt des negativen Stimmgewichts und das Problem der Überhangmandate zu beseitigen. Zudem mahnten die Richter eine bessere Verständlichkeit des Wahlrechts an.

Bereits im Jahr 2009 haben wir Grüne im Bundestag einen Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes eingebracht. Er sieht vor, durch eine verfassungsgemäße Änderung im Wahlmodus die Überhangmandate abzuschaffen und damit auch die Möglichkeit eines negativen Stimmgewichts zu beseitigen. Das Prinzip ist höchst einfach: Entsteht in einem Bundesland rechnerisch ein Überhangmandat, dann wird der Sitz besetzt – aber er wird dieser Partei in einem anderen Bundesland abgezogen. Das ist fair, weil so der direkt gewählte Kandidat in den Bundestag kommt und gleichzeitig die Stärke der Fraktionen dem Verhältnis der Zweitstimmen entspricht. Überhangmandate werden aber nur so weit angerechnet, wie sie von der Anzahl der bundesweit erzielten Zweitstimmen abgedeckt werden. Gibt es überzählige Wahlkreissitze, werden die Kandidaten mit den geringsten prozentualen Stimmenanteilen nicht berücksichtigt. Gegen diesen auf den ersten Blick radikal erscheinenden Vorschlag gibt es keine verfassungsrechtlichen Bedenken. So hat auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof, dessen Mitglieder seit Jahrzehnten von der CSU-Mehrheit bestimmt werden, ähnlich entschieden. Demzufolge ist eine Regelung zulässig, wonach bei Überhängen „die Stimmkreisbewerber in der Reihenfolge der niedrigsten Stimmzahlen ausscheiden“.

Damit wollten wir schon für die Bundestagswahl 2009 ein gerechtes Wahlrecht auf den Weg bringen. Doch der Bundestag lehnte eine Reform des Wahlrechts zu dem Zeitpunkt ab. Die Begründung der Union: Eine Wahlrechtsänderung würde ein Jahr nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts einem „juristischen und politischen Husarenritt“ gleichen. Tatsächlich spekulierte man darauf, dass das alte Wahlrecht für Union und SPD günstiger ist und ihnen wieder die gewünschten Überhangmandate beschert. Die FDP zog mit, um ihren Wunsch-Koalitionspartner zu stärken. Das Wahlergebnis zeigte, dass diese Rechnung aufging.

Auch nach der Wahl 2009 blieb der Blick auf die Machtfragen gerichtet. Vergeblich wartete man auf Vorschläge für ein verfassungskonformes Wahlrecht seitens der Union und ihres inzwischen gelben Koalitionspartners. Angekündigt wurde viel, geliefert wurde nicht. Man war sich selbst innerhalb der Regierungsfraktionen uneinig. Dabei geht es gerade bei der Änderung des Wahlrechts um einen elementaren Bestandteil unserer Demokratie. Es gehört zu den guten parlamentarischen Gepflogenheiten, dass wir nur im fraktionsübergreifenden Konsens eine so tief greifende Veränderung beschließen. Und so kam es, wie es kommen musste. Die Frist des Bundesverfassungsgerichts lief im Juni dieses Jahres ab. Bereits vier Entwürfe aus der Opposition lagen da auf dem Tisch. Die Koalitionsparteien zeigten dem Bundesverfassungsgericht die kalte Schulter und verabschiedeten sich in die Sommerpause.

Nach der Sommerpause – und das glich dann wirklich einem Husarenritt – peitschte die Koalition ihren Entwurf durch den Bundestag. Man hatte während der verregneten Sommertage ein abenteuerliches Verfahren ersonnen, um die eigenen Überhangmandate zu retten. Die Gesetzesänderung sieht eine künstliche Trennung der Bundestagswahlen in 16 Länder-Bundestagswahlen (plus ein schwer verständliches Konstrukt namens „Reststimmenausgleich“) vor, um so das negative Stimmgewicht aufzulösen. Es bewirkt allenfalls eine unsystematische Teillösung des negativen Stimmengewichts und wird Dutzende Überhangmandate schaffen – was auch wieder verfassungswidrig ist. In einer Anhörung des Innenausschusses war die Kritik der Expertinnen und Experten an dem Vorschlag nicht zu überhören. Sogar die von der Union eingeladenen Experten mussten eingestehen, dass die Zahl der Überhangmandate und die damit einhergehende Verzerrung des Größenverhältnisses zwischen den Parteien so nicht minimiert, sondern in Zukunft eher noch wachsen werden. Der Entwurf der Koalition macht das Wahlrecht komplizierter und er ist unlogisch, trotzdem wurde er im Bundestag von der schwarz-gelben Mehrheit beschlossen.

Da ist der grüne Entwurf deutlich überzeugender. Er sorgt dafür, dass das Verhältnis zwischen Stimmenzahl und Parlamentssitzen möglichst genau stimmt. Wir sind daher zuversichtlich, dass das von der Koalition im Alleingang zusammengeschusterte Wahlrecht vor den Verfassungsrichtern keinen Bestand haben wird. Es zielt allein auf den Machterhalt der Koalitionsparteien, nicht auf die Verbesserung des Wahlrechts als Grundpfeiler unserer Demokratie. Die Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat deshalb gegen diesen Gesetzesbeschluss Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben. Zusammen mit der SPD-Bundestagsfraktion haben wir als grüne Bundestagsfraktion zusätzlich auch eine Normenkontrollklage auf den Weg gebracht.

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