Ende der klassischen Geschäftsmodelle?

Das Web verändert nicht zuletzt die klassische Wertschöpfung der Unternehmen – und zwar so rasant, dass die Stunde für ein unternehmerisches Umdenken schon gestern geschlagen hat. Ein Gastbeitrag von Claudia Pelzer für die grüne Mitgliederzeitschrift schrägstrich.

Hauptgrund für den Paradigmenwechsel: Die neue Transparenz, die das Netz mit sich bringt. Wir haben nahezu unbeschränkten Zugang zu Wissen, Informationen, (digitalen) Gütern und gleichgesinnten Menschen. Aber auch die Rollenverteilung ändert sich. Ehemals passive Konsumenten bekommen plötzlich eine Stimme, verbessern und individualisieren Produkte, mischen sich wie selbstverständlich in Firmenbelange ein.

Die Macht des Schwarms

Das Engagement der Vielen kann heute etwas bewegen. Shitstorms wurden diese Online-Beschwerde-Fluten passenderweise getauft. Und ist ein Unternehmen erst einmal in solch einen Sturm aus virtuellen Exkrementen geraten, heißt es schnell zu handeln, um den Image-Schaden so gering wie möglich zu halten. Dem Konzern bleibt somit oftmals nichts anderes übrig, als klein beizugeben, während der Konsumenten- Schwarm triumphiert. Nicht zuletzt bekommen professionell erstellte, gewinnorientierte Produkte ernstzunehmende Konkurrenz von Alternativen, die durch die Intelligenz der Masse befüttert werden. So würde heute wohl niemand mehr in Enzyklopädien investieren, da es Wikipedia gibt und auch Straßenkarten und Routenplaner werden zunehmend durch kollaborativ erstellte Produkte wie die Open Street Map ersetzt.

Arbeitswelt der Zukunft: flexibel und mobil

Betrachtet man die weiteren Auswirkungen der digitalen Wirtschaft, so wird man schnell feststellen, dass sich die grundlegende Struktur unserer Arbeitsabläufe und -inhalte massiv verändert hat. Befanden wir uns vor einigen Dekaden noch in einer auf Produktion ausgerichteten Gesellschaft, so beschränkt sich die Kernkompetenz der westlichen Hemisphären mehr und mehr auf die Erzeugung von Wissen und Kreativleistungen. Produziert wird längst anderswo. Was aber bedeutet das für die Art und Weise, wie wir arbeiten? Zunächst einmal ist Arbeit längst nicht mehr eine Produktionsstätte, nicht mehr ein feststehender Ort, an dem wir und acht Stunden täglich aufhalten und dann nach Hause gehen. Arbeit steckt mitunter „nur“ in einem Laptop oder Smartphone. Und nicht zu vergessen in unseren Ideen und Kommunikationsfähigkeiten.

Diese neue Mobilität fördert und ermöglicht Arbeitszeitmodelle, die besser und flexibler auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet sind. Homeoffice und Co-Working-Spaces sind da nur einige Beispiele. Zeitgleich müssen wir aber auch vollkommen neu erlernen, mit der Vermischung von Arbeit und Freizeit sowie der ständigen Erreichbarkeit umzugehen (oder diese einmal bewusst nicht wahrzunehmen). Noch nie war eine Generation so schnell (und so gestresst) wie die der „ewigen Onliner“. Die neuen, fluiden Prozesse und Strukturen beeinflussen aber auch die Art und Weise, wie sich die Kreativ- und Wissensarbeiterinnen und -arbeiter organisieren und selbst (sprich unabhängig von Konzernen) vermarkten.

Aufstand der Selbständigen

Auch die Politik ist gefragt. Freelancer und kreative Einzelunternehmer fordern längst eine Gleichbehandlung im Hinblick auf ihre Lebensmodelle und soziale Absicherung. Groß ist derzeit die Empörung über die kürzlich von  Bundesarbeitsministerin von der Leyen vorgestellten Pläne, einen gesetzlichen Rentenversicherung-Zwang für Selbstständige einzuführen. Das Modell sieht vor, dass Selbstständige unter 30 Jahre zwischen 350 und 450 Euro monatlich für die Rentenversicherung und zur Absicherung gegen Erwerbsminderung zahlen sollen.

Aus Sicht der meisten Selbstständigen ist dieses Konstrukt jedoch viel zu starr und damit praxisfern und würde zudem für Neugründungen eine massive Hürde darstellen. Über 80.000 Unterstützerinnen und Unterstützer haben schon die Petition „Keine Rentenversicherungspflicht für Selbständige“ unterzeichnet und beklagen sich über eine lebensfremde Politik aus dem Elfenbeinturm.

Partizipation und neue Verantwortlichkeit

Neben politischer Partizipation und Mitsprache (Liquid Democracy) gibt es inzwischen zahlreiche Digital-Initiativen, die gesellschaftliche Verantwortung fördern. Allen voran Plattformen wie United Nations Volunteers (eine Vermittlungsstelle für Freiwilligenarbeit) oder Wheelmap.org (ein auf Open Street Map basierendes System, in dem Nutzerinnen und Nutzer Informationen zur Rollstuhl-Zugänglichkeit von Locations hinterlegen können). Zudem entstehen immer mehr Offene Systeme, die sich mit dem Thema Stadtplanung und Umwelt beschäftigen. Change by Us NYC beispielsweise ist ein Projekt der Stadt New York, auf dessen Website Bürgerinnen und Bürger nicht nur Ideen einreichen, sondern auch gleich mit deren Umsetzung beginnen können. Die Ideen reichen dabei von „mehr Bäume und Parks in Harlem“ bis hin zu „mehr Solarpanels auf öffentlichen Gebäuden“ oder „mehr Fahrradwege im Stadtgebiet“. Nutzerinnen und Nutzer können darüber hinaus eigene Projekte konzipieren und nach Mitstreiterinnen und -streitern suchen oder sich bereits bestehenden Projektinitiativen in ihrer Nachbarschaft anschließen. Die Site vermittelt außerdem den Zugang zu öffentlichen Ressourcen und Non-Profit-Organisationen. Change by Us verbindet damit überaus erfolgreich die Themen Open Government, Partizipation und … – fassen wir es einfach mal unter dem Begriff „Grünes“ zusammen.

Collaborative Consumption & Carrotmobs

Einen klaren Vorteil hat die totale Vernetzung. Sie ermöglicht einen ressourcenbewussten, eigenverantwortlichen Umgang mit Waren und Dienstleistungen. Ob Mitfahrzentralen, Car Sharing oder Wohnungstausch (z.B. via Airbnb.de oder 9flats. com), Collaborative Consumption liegt voll im Trend. Nebenwirkung dieser Entwicklung: Die Geschäftsmodelle der klassischen Marktsegmente, beispielsweise der Hotellerie, werden untergraben. Auf Seiten der Automobilindustrie hat man die Konkurrenz der geteilten Güter erkannt und eigene Carsharing-Initiativen ins Leben gerufen (wie DriveNow von BMW).

Eine weitere Bewegung, die sich die Vorzüge des digital vernetzten Konsums zu Nutze macht ist der Carrotmob. Erstmals im Jahre 2008 in den USA durchgeführt, breitete sich diese Konsumenten-Initiative so rasant aus, dass es heute in fast jeder deutschen Großstadt eigene Carrotmob-Gruppen gibt. Das Prinzip ist recht simpel: Eine große Gruppe von Menschen verabredet sich online, an einem Tag in einem bestimmten Laden einzukaufen und steigert damit dessen Umsatz. Im Gegenzug verpflichtet sich der Einzelhändler, einen Anteil des Tagesumsatzes in Energiesparmaßnahmen zu investieren.

Der gesteigerte Umsatz ist aber nicht der einzige Vorteil für den Ladenbesitzer: Zusätzlich wird positive Aufmerksamkeit in den (sozialen) Medien generiert und auch die Energieeinsparungsmaßnahmen schlagen sich auf Dauer positiv nieder, beispielsweise auf der nächsten Stromrechnung. Bei jedem der Carrotmobs wird zudem ein Energieberater hinzugezogen, dessen Bericht unter anderem eine ökonomische Analyse beinhaltet. Der digitale Wandel und die daraus resultierenden Initiativen haben in Kombination mit dem Engagement der Vielen also durchaus das Potenzial, unsere gesellschaftliche Ökobilanz zu verbessern. Und dabei stehen wir erst am Anfang.

Mit Schwarm-Intelligenz zu Wissensprodukten

Claudia Pelzer nennt gute Beispiele, wie das Mitmach-Web unser Leben  verändert. Die Randbereiche der Wirtschaft sowie die Logik der  Industriegesellschaft haben ihre Bedeutung in der beginnenden Wissensökonomie verloren. Wenn Wissen – vor allem in digitaler Form – beliebig verfügbar wird, ist es nicht mehr knapp. Klassische Markttheorie basiert aber auf der optimalen Verteilung knapper Güter. Die alten Großen wie Apple und Microsoft wollen den Paradigmenwechsel zur Transparenz allerdings nicht kampflos zulassen. Sie verknappen Wissensgüter künstlich.

Anders als Rohstoffe ist zum Beispiel ein Computer-Betriebssystem kein Verbrauchsgut, sondern ein Konzept. Ob eine Million Mal verwendet oder 100 Millionen Mal, spielt für die Herstellungskosten keine Rolle. Sein Wert verringert sich nicht durch Gebrauch – erwächst sogar, wenn ein Betriebssystem zum Weltstandard wird. Gleiches gilt für Medikamente: Dort ist die Rezeptur das Entscheidende. Die Produktionskosten für eine Tablette sind verschwindend gering. Zumindest hierzulande gilt: Der Anteil des Wissens an der gesamten Wertschöpfung beträgt heute bereits etwa 70 Prozent. Alle Waren verwandeln sich latent in Wissensprodukte.

Die Diskussion um das ACTA-Abkommen zielt auf den Überlebenskampf der alten Logik von Marktsteuerung: Die beliebig verfügbaren Wissensgüter sollen so knapp werden, wie es einst die klassischen Industriegüter waren. Dafür werden Patentrechte vergeben und verteidigt.

ACTA – Das Anti-Counterfeiting-Trade-Agreement ist ein internationales Abkommen zum Schutz von Markenrechten und gegen Urheberrechtsverletzungen. Unsere Kritik: ACTA ist unter Ausschluss der Öffentlichkeit und großem Einfluss von Lobbyisten entstanden. Es zielt auf eine stärkere Kooperation zwischen Internetprovidern und Rechteinhabern, damit würde die Privatisierung der Rechtsdurchsetzung drohen.

Die beschriebenen Beispiele Wikipedia und Open Street Map zeigen aber schon, dass es auch ganz anders geht. Der Beitrag der Schwarm-Mitglieder setzt natürlich individuelle Bildung voraus. Aber darin steckt bereits die Chance im Wandel zur Wissensgesellschaft für mehr globale Gerechtigkeit: Wissen lässt sich immer nur gesellschaftlich herstellen, nie isoliert vom Einzelnen. Eigenverantwortung alleine wäre dazu ein falscher Gegensatz, denn mehr Bildung erhält der Einzelne nur dann, wenn die Gesellschaft ausreichend Ressourcen in das Bildungssystem steckt. Eine Politik, die von einer generellen „Individualisierung“ von „Marktteilnehmern“ ausgeht, ist nicht zukunftsfähig. Diese Debatten müssen wir parallel zu „neuen Knappheiten“ bei Rohstoffen führen. Denn nur ein Prozent beträgt der durchschnittliche Materialwert in einem Auto, Handy oder Fernseher. Wichtig ist aber, die Dynamik der restlichen 99 Prozent zu verstehen.

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Digitaler Wandel und Alltag

Digitaler Wandel und Politik

Digitaler Wandel und Kultur

Die komplette Ausgabe des schrägstrich 02/2012 (PDF)

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