„Es ist eine Scheinwelt, die Sie uns hier präsentieren“, urteilte Boris Palmer über den Stuttgart 21 – Stresstest der Bahn im Rahmen der öffentlichen Präsentation am vergangenen Freitag im Stuttgarter Rathaus. Die Mindesthalte- und Umsteigezeiten seien zu kurz geplant und 13 Doppelbelegungen pro Stunde machten den geplanten Tiefbahnhof viel zu störanfällig, waren Palmers Haupt-Kritikpunkte.
Brigitte Dahlbender, Sprecherin des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, schloss sich Palmers Kritik an den Stresstest-Ergebnissen an. „Das ist kein Stresstest, das ist ein Schönwetterbetrieb mit leichten Störungen.“ kritisierte sie die Computersimulation der Bahn. Ein Stresstest ohne Ausnahmezustände, ohne Baustellen, Signal- und Weichenstörungen sei des Namens nicht wert.
Die öffentliche Präsentation des Stresstests war der vorerst letzte Schritt im Schlichtungsprozess zwischen Gegnern und Befürwortern des geplanten Großprojektes Stuttgart 21 unter Moderation von Heiner Geißler. Im Schlichterspruch Anfang des Jahres hatte sich Die Bahn AG dazu verpflichtet, mit dem Stresstest nachzuweisen, dass der neue Tiefbahnhof mit den dazugehörigen Zulaufgleisen in der Spitzenstunde um 30 Prozent leistungsfähiger sei als der bestehende Bahnhof.
Dabei zog die Bahn AG zum Vergleichden momentanen Fahrplan mit 37 Zügen herangezogen. Die daraus resultierende Zielmarke von 49 Zügen in der Spitzenstunde erreicht Stuttgart 21 mit Müh und Not. Von den Gegnern wird dabei immer wieder kritisiert, dass die 37 Züge nicht der wahren Kapazität des heutigen Bahnhofes entsprechen und man sich vor Begin n des Stresstests auf eine gemeinsame Grundlage hätte einigen müssen.
Zudem bestehen erhebliche Zweifel daran, ob die Zielmarke von 30 Prozent Leistungssteigerung gegenüber dem bisherigen Betrieb wirklich zukunftsweisend sein kann. Allein in den vergangenen 15 Jahren ist der Schienenverkehr um 30 Prozent gewachsen und anders als der bestehende Kopfbahnhof ist Stuttgart 21 nur mit sehr hohem Aufwand in den kommenden Jahrzehnten erweiterungsfähig. „Der neue Bahnhof wird von Anfang an vor Stress Migräne bekommen“, kommentierte Palmer die Pläne für den unterirdischen Bahnhof deshalb.
Eine heftige Diskussion entbrannte während der Präsentation außerdem darüber, wie das Urteil „wirtschaftlich optimal“ zu deuten sei. Diese Bewertung hatte das Schweizer Gutachter-Unternehmen SMA den Bahnhofsplanungen ausgestellt. Die Bahn versuchte, diese Formulierung in die Note „Gut“ umzudeuten und hatte auf Grundlage dessen schon vor der öffentlichen Präsentation des Stresstests öffentlich verkündet, den Test bestanden zu haben.
Boris Palmer wies jedoch darauf hin, dass in der Schlichtung vereinbart worden sei, man müsse eine „gute Betriebsqualität“ erreichen. „“Wirtschaftlich optimal“ entspricht höchstens der Note „befriedigend“, weil der geplante Bahnknoten nicht wie vereinbart Verspätungen abbauen könne.“, erklärte Palmer im Rahmen der Präsentations-Veranstaltung. Damit sei die Bahn mit ihren Planungen zu Stuttgart 21 durchgefallen.
»Audit der sma zur Betriebsqualitätsüberprüfung von Stuttgart 21
»Präsentation von Boris Palmer: Auswertung des Stresstest
»Informationen und Materialien zur Präsentation des Stuttgart 21 Stresstest
Der Kompromissvorschlag von Heiner Geißler und sma
Zum Abschluss der turbulenten und äußerst konfrontativen Debatte über den Stresstest präsentierte Schlichter Heiner Geißler schließlich unter dem Titel „Frieden für Stuttgart“ seinen persönlichen Kompromissvorschlag: eine Kombination aus Kopfbahnhof und verkleinertem unterirdischemden Bahnhof.
Die Schnellfahrstrecke Mannheim-Stuttgart-Ulm soll in dieser Planung durch einen viergleisigen Durchgangsbahnhof, quer zu den jetzt bestehenden Trassen, unter der Erde führen. In einer halbierten Variante des Tiefbahnhofs könnten nach Geißlers Planungen alle Fernzüge sowie jene schnellen Regionalzüge verkehren, die nicht in Stuttgart enden. Die Nahverkehrszüge sowie ICEs und TGVs, die in der Landeshauptstadt ihren letzten Halt haben, sollen in dem auf zehn bis zwölf Gleise reduzierten oberirdischen Kopfbahnhof einfahren.
» Kompromissvorschlag von Heiner Geißler und sma
Laut Geißler verringere sich der Bauaufwand bei seinem Kompromissvorschlag gegenüber dem von Stuttgart21 enorm. Beim Konzept des Kombibahnhofes wären demnach nur noch zwei statt vier Bahnsteigen, nur noch vier statt acht Gleisen und vier statt zwölf unterirdischen Verzweigungsbauwerken notwendig. Die Zahl der Weichen im Tiefbahnhof würde sich von 46 auf 20 reduzieren. Außerdem würde die Summe der Tunnelkilometer geringer: Während bei Stuttgart 21 mit 47,5 Kilometer eingleisiger und fünf Kilometer zweigleisiger Strecke im Untergrund geplant wird, wären es beim Kombibahnhof nur noch 26 Kilometer eingleisige und ein Kilometer zweigleisige Trassen.
Dadurch würden auch die Kosten sinken. Heiner Geißler und SMA rechnen in ihrem gemeinsamen Papier mit Investitionskosten von 2,5 bis 3 Milliarden Euro. Nach dieser Kalkulation wäre der Kombibahnhof deutlich günstiger als Stuttgart 21 mit offiziellen Kosten von 4,088 Milliarden Euro.
Der größte Vorteil von Geißlers Lösung wäre aber die Möglichkeit, den verfahrenen Konflikt zwischen Gegnern und Befürwortern von Stuttgart 21 mit einem baulichen Kompromiss zu lösen. Dieser Vorschlag darf deshalb nicht einfach vom Tisch gewischt werden. Er würde nicht nur weniger Tunnelstrecken bedeuten, sondern auch den Südflügel des heutigen Bahnhofes erhalten, weniger Eingriffe in die vNatur notwendig machen und eine geringere Gefährdung für die Mineralquellen bedeuten. Neben einem möglichen höheren verkehrlichen Nutzen bietet er darüber hinaus auch eine Chance zur Befriedung des Großkonflikts rund um Stuttgart 21.
„Die Landesregierung nimmt den Vorschlag von Heiner Geißler ernst und wird ihn in verkehrlicher, finanzieller und planungsrechtlicher Hinsicht auf seine Tragfähigkeit überprüfen. Die Landesregierung will mit der Deutschen Bahn über das weitere Vorgehen sprechen“, erklärte die Regierung in Reaktion auf Geißlers Papier am Samstag. Dieses Vorgehen begrüßen wir.
»StZ-Interview mit Brigitte Dahlbender: „Wir sehen darin eine Chance“
»Landesregierung: „Vorschlag Geißlers ernst nehmen und auf Tragfähigkeit überprüfen