Das macht die Leute wütend

Zehn Wochen nach der Katastrophe in Fukushima war Sylvia Kotting-Uhl in Japan. Im Interview berichtet die atompolitische Sprecherin der Grünen von ihren Eindrücken. Da tut sich was.

gruene.de: Gerade wurde öffentlich, dass in zwei weiteren Reaktoren des Atomkraftwerks im japanischen Fukushima direkt nach dem Unglück die Brennstäbe geschmolzen sind. Wann ist denn endlich das gesamte Ausmaß dieser Katastrophe bekannt?

Sylvia Kotting-Uhl: Es ist erschütternd, dass die Betroffenen in Japan so lange im Dunkeln gelassen wurden. Das komplette Ausmaß der Katastrophe ist nach so vielen Monaten in Japan noch immer nicht bekannt. Wann das ganze Ausmaß öffentlich gemacht wird, weiß man nicht, weil die Informationspolitik nicht transparent ist. Das treibt die Menschen in Japan auch zunehmend um. Sie haben das Gefühl, sie können den Leuten, von denen ihre eigene Sicherheit abhängt, nicht vertrauen.

Du kommst gerade aus Japan zurück. Wie hast Du die Menschen dort erlebt? Gibt es eine neue Anti-Atom-Bewegung?

Ja, da tut sich was. Man muss dazu sagen, dass die Japanerinnen und Japaner eigentlich nicht dazu neigen, auf die Straße zu gehen und laut ihre Anliegen zu vertreten. Das passt nicht zur Kultur und Mentalität. Die Japaner kritisieren eigentlich auch nicht und sind immer höflich. Statt: “Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser”, gilt hier aber: “Vertrauen ist gut.” Deswegen ist das eine ungeheure Hürde für die Menschen, zu sagen: „Wir müssen uns irgendwie bemerkbar machen, wir müssen unseren Unwillen zeigen, wir müssen vielleicht sogar demonstrieren.” Die Japaner müssen dafür die Hürden ihrer Erziehung überwinden. Auch in der Parteienlandschaft passiert etwas. Ich war an verschiedenen Orten im Land und überall ging es auch um die Frage, wie jetzt die heterogenen Bewegungen miteinander vernetzt werden können. Auch die japanischen Grünen wachsen gerade.

Wie ist das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zur Politik und zum Atomkraftwerksbetreiber TEPCO?

Das Vertrauen in TEPCO ist geschwunden. Als der Vorstandschef endlich die Verantwortung übernommen hat, ist er auch gleich zurückgetreten. Ein Riesenproblem ist auch das Atomkraftwerk “Hamaoka” und die Betreibergesellschaft “Chubu Electric Power”, die ebenfalls völlig intransparent ist. Da macht sich viel Unmut breit. Ich war dabei, als ein Kommunalpolitiker eine Petition von Bürgern übergeben wollte. Es wurde ein Unterabteilungsleiter geschickt, um das Papier entgegenzunehmen. Der Mann hatte aber keine Kompetenz, ein Gespräch zu führen und nahm die Petition einfach kommentarlos hin. Das bringt die Leute natürlich sehr auf. Die sagen: “Wir haben hier ein Anliegen und wir wollen wissen, was passiert. Wir fordern, dass diese AKW, die nach Fukushima vom Netz genommen wurden, auch vom Netz bleiben, weil sie direkt auf dem Zusammenstoß dreier großer tektonischer Platten liegen und schon immer ein Gefährdungspotential hatten – anders als Fukushima. Wenn hier ein Unfall passiert, betrifft es die Metropolregion Tokio mit 35 Millionen Einwohnern.” Die Leute wollen also, dass diese AKW vom Netz bleiben und jetzt heißt es, sie seien für zwei Jahre abgeschaltet und in dieser Zeit werde eine Tsunami-Schutz-Mauer gebaut und dann gehen sie wieder ans Netz. Das macht die Leute wütend.

In Japan wird eine zehnköpfige Kommission zur Untersuchung der Havarie Fukushimas eingerichtet, damit solche Katastrophen in Zukunft verhindert werden können. Was hältst Du davon?

Das ist ähnlich wie bei uns mit der Ethik-Kommission. Man tut so, als sei das schon der halbe gesellschaftliche Konsens, wenn man eine Kommission beruft, die nicht direkt in der Verantwortung steht und dann irgendetwas entscheidet. Feststeht: Japan ist ein einziges großes Erdbebengebiet und die Erfahrung mit Fukushima zeigt, dass auch auf Erdbeben ausgelegte AKW bei solchen Naturkatastrophen nicht sicher sind.

Habt Ihr während Eurer Reise Strahlenwerte gemessen?

Wir haben außerhalb der Schutzzone gemessen, weil es dort eine breite Schneise von Fukushima-Daiichi aus Richtung Nord-Westen gibt, die stark kontaminiert ist. Wir waren an einem Ort, an dem noch ungefähr zehn Prozent der Menschen leben. Es sieht aber nicht so aus, als wären die Verbliebenen schon am Packen, sondern sie verrichten ganz normal ihren Alltag. Wir haben dort elf Mikrosievert gemessen, unter einem Abflussrohr sogar 500. Wenn ein Mensch ein Jahr lang dort leben würde, käme er auf eine Jahresdosis von 89 Millisievert. Das ist mehr als das Vierfache der Grenzwert-Dosis, der ein Arbeiter in Atomkraftwerken ausgesetzt sein darf. Das sind schon massive Werte, und es sollte dort dringend vollständig evakuiert werden. Aber scheinbar kümmert sich niemand darum.

Wie hoch ist die Gefahr, dass die Strahlung ins Meer gelangt?

Das passiert dauernd. Wo soll das ganze Kühlwasser sonst hin? Außerdem muss weiterhin gekühlt werden. Es gab mal die Überlegungen, die verstrahlte Kühlflüssigkeit in Tanks zu packen und abzutransportieren. Aber was will man mit Tonnen von hoch kontaminiertem Wasser machen? Das sind alles völlig ungelöste Probleme. Natürlich geht jede Menge Radioaktivität ins Meer. Es verdünnt sich zwar stark, aber das wird auch in die Nahrungskette gelangen. Japan lebt vom Fisch und der wird nicht unbeeinflusst bleiben.

Gibt es denn irgendeinen Zeitplan, was jetzt mit dem Gebiet um Fukushima passiert und mit den Menschen, die dort gelebt haben?

Ich habe nicht den Eindruck, dass es einen Zeitplan gibt. Alle reden zwar davon, die Evakuierten kämen in überschaubarer Zeit wieder zurück, aber ein Zeitpunkt wird nicht genannt. Wenn man sich länger mit Flüchtlingen unterhält, hört man heraus, dass diese Leute nicht mit einer Rückkehr in ihre Heimat rechnen. Ein Flüchtling hat zu uns gesagt, man könnte doch das Gebiet um Fukushima mit Solaranlagen bedecken. Der weiß also ganz genau, dass man da nicht wieder leben kann.

TEPCO hat bereits eine große Finanzspritze des Staates bekommen. Wer bezahlt die ganzen Kosten der Katastrophe?

Ich weiß auch nur, dass der Staat 46 Milliarden Euro zugeschossen haben soll, damit TEPCO die Entschädigungen leisten kann. Mehr Informationen als hier aus der Zeitung kriegt man dort auch nicht. Das Geld wird aber nicht reichen. Zum Beispiel gibt es auch Flüchtlinge, die auf eigene Verantwortung geflohen sind, bevor die Evakuierungen begannen. Wenn man die Formalitäten nicht eingehalten hat, kann es sein, dass man gar keine Entschädigungen bekommt. Außerdem fehlen mentale Hilfsangebote und psychische Beratungsstellen. Die Menschen sind natürlich teilweise depressiv. Sie verlieren ihre Lebensgrundlage und sind in diesen Sammelunterkünften ohne Privatsphäre. Das ist alles nicht sehr erhebend.

Mit was für einem Gefühl bist Du aus Japan zurückgekommen?

Meine Gefühle waren ganz gemischt. Zum einen war es natürlich erschreckend, durch diese Landschaft zu fahren. Da liegen Armadas von Schiffen in den Äckern, und man sieht, was alles mit dem Tsunami zerstört wurde. Dann diese trockenen Reisfelder, weil die Ernte nicht mehr verkauft werden kann. Die leeren Häuser. Die letzten Menschen, die da noch so vereinzelt leben und nicht weggehen wollen. Das ist schon alles gespenstisch – Niemandsland. Auf der anderen Seite habe ich so viele tolle Menschen getroffen, die sich politisieren. Für sie ist auf einmal dieses Risiko von Atomkraft und die ganze Problematik präsent. Die Flüchtlinge fangen an, Fragen zu stellen, um die sich bisher keiner kümmert. “Was machen wir eigentlich am Ende mit dem ganzen Atommüll?” Und auch die Menschen, die jetzt anfangen, eine Art Bürgerbewegung zu bilden. Frauen von fast 70 Jahren, die sich nie für Politik interessiert haben, die jetzt aufgerüttelt sind, aktiv werden und sagen, da müssen wir was tun, das muss sich ändern. Da ist unheimlich viel in Bewegung und das macht mich optimistisch. Weil die Verwaltungseinheiten sehr festgefügt und starrköpfig sind, muss die Veränderung von unten wachsen. Und das passiert gerade.

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